Die Inflation der Hoffnung
Dem guten Rat meines Freundes Neidthard Kupfer (www.mentopia.net) folgend, habe ich mir die Riege der Schein-Heiligen, welche derzeit umtriebig sind, noch einmal angesehen und mit einem althergebrachten Phänomen verglichen.
KKK - Krisen, Kaos, Katastrophen, so könnte man den aktuellen Zeitrahmen seit der Jahrtausendwende beschreiben. Natürlich taucht das Schreckgespenst des Weltuntergangs zu jedem Millenniumswechsel auf, aber im Moment könnte man meinen "schlimmer geht nimmer", obwohl das natürlich eher ein frommer Wunsch ist. Rezession, Krieg, gefühlte Völkerwanderung, der Niedergang der westlichen Wertekultur, die fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft, Pandemie, Umweltzerstörung, Klimaveränderung und eine Reihe von frei erfundenen Bedrohungen aus den Reihen der Verschwörungsfetischisten (Satanismus inkl. Kindstötung, Aliens, Great Reset, Transhumanismus, KI-Horror, 5G, HAARP...) lassen dem Durchschnittsmichel den Blutdruck steigen und sein kleines, reines Bürgerherz in die Hose rutschen.
Mitunter hat (beispielhaft) Frau Frieda Müller (Teilzeit-Kassierin beim Brutto, 49 Jahre, verheiratet mit Frührentner Herbert, 58, adipös, rheumatisch, Raucher) wohnhaft in einer Trabantenstadt im achten Stock, stolze Besitzerin eines Schlaufons, Schwierigkeiten, all diese furchterregenden Szenarien adäquat der Realität zuzuordnen. Die Welt um sie herum, wie sie sich in ihren "alternativen Medien" der Blödenlaterne darstellt, nimmt die Form beängstigender, drohender Schatten an, die ihrem Bedürfnis nach Harmonie diametral entgegenstehen.
Sie versteht nicht, warum die Mächtigen (die sie erst unlängst an der Wahlurne ins Amt gehoben hat), so furchtbar böse Dinge tun, wie sie von den Wahrheitsdistributoren (engl.: "Truther") immer wieder aufgedeckt werden. In zahlreichen Telegramgruppen liest Frieda von Superreichen, die den Teufel anbeten und Biochemikalien mit seltsam klingenden Namen, die sie nicht zu buchstabieren vermag, aus den Schädeln unschuldiger, kleiner Kinder schlürfen. Und dann noch diese furchtbare Diktatur, in der sie in Deutschland leben muss, ein Deutschland von dem sie mittlerweile weiß, dass es gar kein Staat, sondern eine Firma ist, genauso wie der Supermarkt, an dessen Kasse sie in Teilzeit sitzt. Deswegen hat sie ja auch einen Person"AL"ausweis, hat sie gelesen. Firmeninhaber sind, so ist es im Internt zu lesen, Nationalsozialisten, die aber als Mitglieder der Hochfinanzkaste eigentlich Juden sind. Das darf man aber nicht sagen, wird man bestraft, also nennt man die "NaZi(onisten)", so schlau ist Frieda bereits.
Dann sind da noch die ganzen fremden Messermänner, die an Allah und sonstwen glauben, keine anständige Bratwurst mögen und das schöne Deutschland bevölkern wollen, was die auch dürfen, weil die Regierung die richtigen Deutschen loswerden will. Frieda weiß inzwischen, dass das "Umvolkung" heißt. Das ist ein Plan der Amerikaner, um die Nazis loszuwerden. Aber Frieda ist gar kein Nazi, sie will nur keine Nääschää in ihrem Umfeld haben, die können doch zu Hause bleiben.
Frieda hat auch gelernt (im Internet), dass es "deutsche Stämme" gibt. Da gehört sie auch zu, denn immerhin stammt ihre Familie aus Oberschlesien. Aber die wollen die Nazis von der Regierung auch loswerden, damit hier nur noch Schniedelmädchen wie Joghurette-Schantalle leben sollen, der Junge von der kleinen Dicken aus der Fleischereiabteilung, der eigentlich Jörg heißt und nur noch mit Röckchen und Nasenring und blauen Haaren herumläuft. Das ist nicht normal, das weiß Frieda ganz genau. Der ist auch erst so komisch, seit er diese Spritze gegen Schnupfen19 bekommen hat, da sind nämlich so kleine Roboter drin, die die Leute verschwulen. Dadurch sterben die deutschen Stämme dann aus und die Globohomo-Nazis können die Orientalen hier ansiedeln.
So ungefähr sieht die Welt unserer fiktiven Frieda aus und sie wird noch düsterer, sobald sie ihr Streichelfon öffnet. Dann prasseln aus den 125 Telegramgruppen, in denen sie als "Lichtwesen_einself" unterwegs ist, im Sekundentakt die Horrormeldungen auf sie ein. Frieda nutzt ihren Apparat exzessiv, er ist ihre Nabelschnur zu etwas, das sie persönlich als "Wahrheit" empfindet. Wo sie geht und steht, wischt sie über das kleine Leuchtfenster, das sie in einem adretten Lederetui in Buchform mit sich herumträgt und in jeder Sekunde streichelt, wenn sie gerade nichts anderes macht. Sogar an der Bushaltestelle, im Wartezimmer beim Arzt und auf dem Klo "sörft" sie im Netz, hungrig nach Meldungen. Sie hat sogar schon eine Abmahnung erhalten, weil sie während der Arbeitszeit durch das Ding vor ihrer Nase abgelenkt war und Kunden mit ihren "Erkenntnissen" bedacht hat. Außerdem hat sie sich geweigert, die "Sklavenmaske" während der Arbeit zu tragen.
Frieda lebt in einer Welt, die aus lauter Angstkonstrukten zusammengesetzt ist. War sie früher noch eine umgängliche, nette Nachbarin, so hat sie sich mittlerweile zu einer misstrauischen Person entwickelt, die außer "Informier dich mal!" ihren Nachbarn nicht mehr viel zu sagen hat. Im Treppenhaus geht man mittlerweile grußlos an ihr vorbei. Diese Form der empfundenen Zurückweisung treibt sie noch weiter ins Cocooning, sie fühlt sich unverstanden, ist mit der Gesamtsituation unzufrieden und ihr Mann sitzt eh nur grunzend mit der Bierpulle in der Hand auf dem Sofa und glotzt Sportsender.
Jetzt schlägt die Stunde der Rattenfänger. Und sie schlagen erbarmungslos zu.
Wo und wann immer Krisen aufziehen und die althergebrachten Werte einer Generation bedrohen, tauchen Gestalten auf, die auf Menschenfang sind. Hat der gute Simon Petrus ja auch einst so gemacht. Oder? Nicht ganz. Diese Leute, die ich meine, haben in Wahrheit keine gute Botschaft, keine frohe Kunde. Sie benutzen die Angst der Menschen, um ihre Schäfchenherde (neumodisch: "Follower") stets zu vergrößern. Tatsächlich gibt es für diese emotionalen und materiellen Schmarotzer einen feststehenden Begriff:
DIE INFLATIONSHEILIGEN
Begriffsdefintion aus der Wikipedia: Als Inflationsheilige wird nach 1945 eine heterogene Gruppe von Männern bezeichnet, die zu ihrer Zeit als „Wanderheilige“, „Naturmenschen“ oder „Naturpropheten“ bekannt waren und besonders während der großen Inflation Anfang der 1920er in Erscheinung traten. Sie selbst nannten sich „Brüder“ (Johannes Guttzeit), „Christrevolutionäre“ (Alfred Daniel), „Christsozialisten“ (Max Schulze-Sölde) oder „Banditen des Weltbummelbunds“ (Gusto Gräser). Es handelte sich um eine neureligiöse Erweckungsbewegung, die mit urchristlicher Unbedingtheit ein zeitgemäßes Weltbild für die Moderne verbreiten wollte. [...] Ihrer Herkunft und Profession nach waren die Inflationsheiligen durchaus keine homogene Gruppe: Die Spannbreite reichte vom vegetarischen Naturschwärmer, Jugendbewegtem und Weltenbummler bis zum arbeitslosen Proletarier, vom dadaistischen Happeningkünstler bis zum ehemaligen Unternehmer und Wirtschaftsbetrüger. Aber man kannte sich und arbeitete in allen nur erdenklichen Konstellationen zusammen. Neid und Konkurrenzgedanken lagen den meisten fern, obwohl die gemeinsame Grundlage ihrer Lehren der Glaube ans eigene „Ich“ und ein daraus resultierender Größenwahn und Drang zur egomanen Selbstdarstellung war. In ihrem Selbstverständnis hieß das: Je weiter man in seiner eigenen spirituellen Entwicklung gekommen war, desto größer wurde auch der Wunsch, sein eigener „Gott“ zu werden. In diesem Sinne ist Haeussers überlieferter Kampfruf zu verstehen: „Ich will Herrenmensch werden, nicht Herr über Menschen, sondern über mich selbst!“ So wurde insbesondere das Apostel-Umfeld des „Haeusser-Bundes“ ein wahrer Brutofen immer neuer „Heiliger“.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Inflationsheiliger
Und exakt diesen Typus Mensch treffen wir nun, in Zeiten neuer Inflation und Rezession, wieder. Pünktlich wie das Uhrwerk schießen sie wie Pilze aus dem Boden.
- Da ist ein gewisser Oliver Brecht (ein ehemaliger Polizist und gescheiterter Finanzdienstleister), der als "Geistheiler Sananda" firmiert und angeblich schon Hunderttausende "geheilt" haben will. Er gibt Heilsversprechen ab, verkauft Heilportaits von sich, überteuerte Bücher, CDs, sogar Regenschirme. Der Mann sieht sich als "Reinkarnation von Bruno Gröning" (ein Wunderheiler aus den Fünfzigern), er war/ist Ramses II., Jesus von Nazareth und Ashtar Sheran (ein fiktives Alienwesen). Seine Anhänger singen Lobeshymnen auf ihn und überweisen kofferweise Geld für seine angeblichen Fernheilungen.
- Da ist der Johannes Müller. Ein cholerischer Reichsbürger, der im Auftrag Gottes das Wort verbreitet und auf die baldige "Entrückung" mit Prophezeiungen hinweist, die er aus verschlüsselten Botschaften in Filmen, Zeitungsüberschriften, Werbeflyern und Autokennzeichen entnimmt. Dazu benutzt er eine Website, die angebliche "Gematriaberechnungen" durchführt (eine numerologische Spielerei) und dann zu den ermittelten Zahlwerten der Wörter ähnlich berechnete Inhalte präsentiert. Auf diese Weise ist selbst der Preis einer Pamperswindel ein göttlicher Hinweis. In seiner Telegramgruppe verbreitet er Reichsbürgerideologie, Q-Anon-Inhalte, Hassreden gegen die Verwaltung und seine Küchenprophetie. Mitte Februar wird Müller inhaftiert, weil er mehr als 13.000,- Euro Geldstrafe nicht gezahlt hat.
- Da ist Michael Ballweg. Ein mittelmäßig erfolgreicher Betreiber eines Unternehmens für digitale Inhalte. Als die Coronapandemie ernste Formen annimmt, verkauft er seine Firma und setzt das Kapital ein, um Großkundgebungen gegen die Cornamaßnahmen durchzuführen. Er gründet die als "Querdenker" bekannt gewordene Gruppierung, die im süddeutschen Raum einige Ableger hat. Im Spätsommer 2022 wird Ballweg verhaftet und sitzt in Untersuchungshaft wegen des Verdachts des versuchten gewerbsmäßigen Betruges und der Geldwäsche im siebenstelligen Bereich. Seine Anhänger halten vor dem Gefängnis Mahnwachen für ihn ab.
- Da ist Bodo Schiffmann. Auch er kommt in der Pandemie zu einiger Berühmtheit, weil er gegen die Maßnahmen wettert. Er geht mit einem Reisebus auf Tour und hält in zahlreichen Städten seine Versammlungen ab und verbreitet emotionale Videos u.a. mit Q-Anon-Inhalten im Netz. Auch Schiffmann engagiert sich in der "Querdenken" Gruppierung. Im Frühjahr 2022 verdichten sich gegen Schiffmann Verdachtsmomente der falschen Attestausstellung, Volksverhetzung und Holocaustrelativierung. Außerdem ist der Verbleib sechsstelliger Spendensummen fraglich. Er verlegte seinen Wohnsitz nach Tansania. Seine Fans fordern im Netz "Gerechtigkeit" für ihn.
Das sind nur einige (wenige) derer, die im kombinierten Q-Anon / Reichsbürger / Heilsversprechen - Business unterwegs sind. Es gibt viele weitere Kandidaten ("ferner liefen..."), die halt nur in der Kreisliga spielen, wie z.B. Heiko Schrang ("Schrang TV"), Dagmar Viola Mühl ("Glaubensimpuls"), Mario Amenti ("Awakening Code"), Rüdiger Hoffmann (Staatenlos.info")... und, und, und.
„All diese Leute hatten so etwas Jüngerhaftes, sie trugen – was ja heute wieder nichts Besonderes ist – sie trugen alle lange Haare und Bärte und hatten alle unwahrscheinlich leuchtende, gläubige Augen. Sie predigten gegen das Fleischessen, gegen das Tabak- und Braukapital und für eine naturgemäße Lebensweise.“
Hugo Hartung, Bestsellerautor der 1950er-Jahre und Zeitzeuge der Inflationsheiligen
Was haben all diese unangenehmen Charaktere nun gemeinsam? Das ist eine erstaunlich lange Liste.
- 1) eine narzisstische und/oder bipolare Persönlichkeitsstörung
- 2) gesteigerte Paranoia und extremer Verfolgungwahn
- 3) erhebliche Hybris und cholerisches Auftreten
- 4) ein gewisses Charisma (mehr oder weniger)
- 5) Redegewandtheit und rasche Auffassungsaufgabe
- 6) selektive Wahrnehmung
- 7) Gotteskomplex und religiöse Fantasien
- 8) starker Geltungs- und Selbstdarstellungsdrang
- 9) schauspielerische Fähigkeiten
- 10) unstillbares Sendungsbewusstsein
Mit dieser unheiligen psychopathologischen Mixtur rennen diese Apologeten des Untergangs (oder engl.: "Doomer") in der großen, weiten Netzwelt umher und verbreiten ihren unappetilichen Sermon, der Untergangs- und Verlustängste schürt, Bedrohungsszenarien karikiert und Panik initiiert, bei gleichzeiter Präsentation eines Versprechens auf Erlösung. Dieses ist jedoch meist an bedingungslose Gefolgschaft gekoppelt, wer nicht spurt, der ist verdammt, den Mächten der Finsternis zu dienen.
Und so hängen die Nachläufer an ihren Mobilfunktelefonen, stets nach der nächsten Erlösungsbotschaft lechzend, ihren jeweiligen Meister huldigend, um nur ja ein Quäntchen seiner Aufmerksamkeit zu erheischen, ein virtuelles über-den-Kopf-Streicheln, ein Herzchen-Smiley oder gar eine lobende Erwähnung zu erfahren. Das gipfelt schließlich in absolutem Kadavergehorsam, der nach innen wie außen wirkt. Die Follower tun, was der Meister befiehlt. Egal, was. Sie ereifern sich, wollen lieb gehabt werden und unbedingt Teil von etwas Großem, etwas Gutem sein in dieser Welt, die der Meister ja so treffend als "satanisch" aufzeigt. Wer vom Meister ins Feindbild verschoben wird, den jagt die Meute. Ist ja für die gute Sache.
Dabei fällt den gläubigen Schäfchen nicht auf, wie sehr sie manipuliert werden. Oder wenn es ihnen auffällt, zweifeln sie an ihrer eigenen Wahrnehmung (das sollten sie mal bei den Predigten tun!), dann blenden sie es aus, gehen zur Internetbeichte, bekennen ihre Sünde und werden auf den vermeintlich rechten Pfad zurückgeführt. Wenn jemand sich etwa erdreistet, den Meister zu kritisieren, wird er/sie sofort als "abgefallen, satanisch" betitelt und die Rotte der eben noch friedlichen Mitschäfchen mutiert zu Hyänen, die sich auf das ver(w)irrte Schaf stürzen und es zerreissen.
Hermann Hesse schrieb 1932 in "Die Morgenlandfahrt" über die Situation, in der die Neureligiösen auftauchten:
„Unmittelbar nach dem Ende des großen Krieges, war unser Land voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaften, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnungen auf den Anbruch eines Dritten Reiches. Erschüttert vom Kriege, verzweifelt durch Not und Hunger, tief enttäuscht durch die anscheinende Nutzlosigkeit all der geleisteten Opfer an Blut und Gut, war unser Volk damals manchen Hirngespinsten, aber auch manchen echten Erhebungen der Seele zugänglich, es gab bacchantische Tanzgemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen, es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits und nach dem Wunder hinzuweisen schien.“
Inflationsheilige wie z. B. der Johannes verquicken ihre Erlösungsbotschaft nicht selten mit Reichsbürgerthemen. Da sind die Gerichtsvollzieher "Nazis", die Polizisten "Constellis-Söldner" und die Vollstreckungsgerichte "Firmenkonstrukte". Allesamt sind natürlich Satanisten, die Gottes Plan, für den der Meister steht, verhindern wollen. Das ist praktisch, denn das erweitert den Kundenkreis enorm. Diese Masche hat (nur andersherum) der ehemalige NPD-Funktionär Rüdiger Hoffmann auch versucht, als er 2020 bei seinen Veranstaltungen vor dem Reichstag plötzlich seine göttliche Sendung erkannte und "im Namen Jesus Christi" den Fall der BRD GmbH propagierte. Schiffmann ist ebenfalls auf den Gotteszug aufgesprungen und hat seinen "natürlichen Christusglauben" entdeckt, als die Spendenwilligkeit der Follower etwas nachließ.
Warum machen die das?
Nun, da ist zum einen natürlich das Geld. Ein siebenstelliger Kontostand wird so manchem Erlösungsprediger ein mildes Lächeln ins Gesicht zaubern, für das seine Anhänger buchstäblich das letzte Hemd zu geben bereit sind. So wie der Geistheiler, der gern gut und gesund isst, einige Ferienwohnungen und Autos besitzt und sein Domizil in der Schweiz hat, wo der Lebensunterhalt ja nicht gerade günstig ist. Da muss schon was rüberwachsen.
Und dann ist da der Ruhm. Die Anbetung durch die Gefolgschaft, die manch einem mehr wert ist als all der schnöde Mammon, bei Johannes z. B. ist das der Fall. Er will gelobt sein, vergöttert, angebetet. Man soll zu ihm aufschauen und seine vortreffliche Gottesfürchtigkeit nachahmen. In seinem Falle ein echter Fulltimejob. Seine Familie kann einem leid tun.
Diese gottberührten Narzissten wollen etwas bewegen, sie wollen führen, die Richtung vorgeben und sie wollen sehen, dass ihre Schäfchen ihnen brav folgen. Dass sie dabei Existenzen und Familien zerstören, nicht nur ihre eigene, tritt in den Hintergrund, wenn das von Herzen kommende Hosianna! im Chor erklingt.
ZITATE
„Ich Bin: der Christ (nach Christus). Ich allein verstehe die Bibel in ihrem Geist. Ich bin: Zarathustra (nach Nietzsche). Neue Werte setze ich auf neue Tafeln. Ich bin: der Eingebahnte (nach Laotse). Ich künde die Bahn und den rechten Weg. Für den Geistes-Kampf habe Ich das ganze Vermögen meiner Frau geopfert, im Februar 1920 auch Meine Staatsstellung. Seitdem durchwandere Ich Deutschland wie Christus das Judenland, Buddha sein Indien. Heute noch predigend, morgen aber herrschend.“
Leonhard Stark, geboren 1894, bis 1920 Volksschullehrer, von 1920 bis circa 1930 Wanderprediger, später Hausmann und freier Publizist.
„Der Zukunftsstaat: Ein religiöser STAAT – ein GOTTES-Staat unter der Herrschaft eines Priesterkönigs – Diktatur des Welt-Königs – Ermordung aller DERJENIGEN, die sich meiner Herrschaft nicht fügen! Ich will – oh! Du Mein Wille! – Du – In Mir Du Heiliger – Ich will ein Großes und ein Starkes und Gewaltiges – ein Sauberes – Stolzes – Kühnes – Frohes – Freies – Volk – ein Volk aller Völker, ein Volk – Herr – über Völker! – Und ich – Ich will diesem Volke Führer sein!“
Louis Haeusser, geboren 1881, Unternehmer, ab 1918: Wanderprediger.
Dummerweise kam dem Herrn Haeusser ein gewisser österreichischer Gefreiter zuvor, was diese Volk- und Führersache anging, der konnte nämlich noch lauter schreien. Aber hier gibt es deutliche Parallelen. Auch Hitler war auf seine Weise ein Inflationsheiliger. Er sprach dieselben Bedürfnisse an wie die Wanderprediger, nur dass er eben nicht wanderte, sondern mit dem Flugzeug kam und neue Medien (Radio) nutzte. Aber seine grundlegende Agitationsechnik war dieselbe. Theatralisches Auftreten, markige Reden mit viel Druck, ausladende Gestik und ein absolutes Heilsversprechen, namentlich ein tausendjähriges Reich, wie in der Bibel verheißen.
Ein nicht zu vernachlässigendes Moment der Agitation ist die Sexualität. Während Haeussler mit zahlreichen Frauen schlief (bei Sektierern eine gängige Praxis), setzte Hitler auf die unerfüllbare Begehrlichkeit und führte diese dem Volk sogar noch durch ein okkultes Symbol vor Augen (vergl. hierzu: Wilhelm Reich - die Massenpsychologie des Faschismus). Man schaue sich die leuchtenden Augen der Frauen an in Filmen, die Hitlers öffentliche Auftritte zeigen, dagegen ist die Beatlemania ein Konfirmandinnentreffen.
Das ist im Gefolge der Wunderversprecher auch sehr auffällig: Es handelt sich zu einem sehr hohen Prozentsatz um Frauen. Besonders bei den christlich angehauchten Predigern scharen sich die vom Leben enttäuschten Weibsbilder - vornehmlich protestantischer Prägung - um ihren Guru. Daraus lässt sich durchaus ein gewisser, subtil sexueller Wirkungsmechanismus ablesen, denn nicht selten sind die Anhängerinnen auch sexuell frustriert, was dem Ver-Führer in die Hände spielt. Die Inflationsheiligen profitierten vom tatsächlichen, durch den verlorenen Krieg verursachten Männermangel, die modernen Scheinheiligen hingegen vom gefühlten, durch Bier und TV verursachten Männermangel. Dazu kommt die Angst vor der bösen, satanischen Welt, bei der ein männlicher Erlöser die genetische Prädisposition besser erfüllt als zum Beispiel eine Viola Mühl, was auch der Grund ist, warum der niemand zuhört.
All das schafft Sehnsucht, und zwar nach sexueller Befreiung, emotionaler Erlösung, Gehört- und Gesehenwerden, Anerkennung. Und genau diese Sehnsüchte befriedigen die Möchtegernheiligen, und sei es nur in der schmutzigen Fantasie einer Teilzeitkraft mit Glaubenspotenzial. Heute leben wir in einer Phase, nicht unähnlich der Weimarer Zeit. Ängste und Enttäuschungen haben Hochkonjunktur. Und so wie die Vielzahl der Lämmer die der Löwen ansteigen lässt, so bringt der Verdruss der neuen, digitalen Welt neue Propheten hervor, die ihren Untergang predigen.
„Das Reich Gottes, mein Reich Gottes ist gekommen. Ich fühle die Stunde nahen, wo alle, ihrer Ohnmacht überführt, von selbst abtretend sich freuen werden, wenn ich sie ablöse und die Regierungsgeschäfte übernehme.“
Louis Haeusser
Das Zitat könnte aber auch von Rüdiger Hoffmann stammen. Theoretisch.
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